Auf unserer Reise im Nachtzug nach Petersburg hatten wir zum Glück angenehmere Nachbarn, auch keine Rekordschnarcher, Hockeymannschaften, Bonbonschmuggler oder Mitreisende mit einem Eimer voller Innereien als Reiseproviant, was auf solchen Zugfahrten prinzipiell alles vorkommen kann. So verlief trotz des Reisefiebers alles unspektakulär. Dass ich zu lange nicht mehr so gereist bin, zeigte sich daran, dass auch ich lange brauchte um herauszufinden, wie der Wasserhahn im Klo zu öffnen ist. Es wurde gestrickt und Halstee getrunken, denn die Versorgung mit heißem Teewasser funktioniert in russischen Zügen zuverlässig.
Das „nördliche Venedig“ empfing uns mit für diese Breiten typischem stürmischem Wetter bei ca. 5 Grad, so dass sämtliche meiner Winterklamotten noch einmal ausgeführt werden konnten, bevor sie nach Stuttgart abtransportiert und nach 4 Monaten strapazierender Handwäsche endlich mal wieder in den Genuss einer Waschmaschine kamen. Gegen nasse Füße mussten spezielle Maßnahmen ergriffen werden. Nach der Ankunft und einem schwierigen Fußmarsch zu unserer Unterkunft, einem Franziskanerkloster mit internationaler Ikea-Bettwäsche, Heizlüfter und gut funktionierender Dusche gab es aber zum Glück keinen Regen mehr, so dass wir unser ehrgeiziges Touristenprogramm nahezu ungehindert durchziehen konnten. Dieses bestand darin, in nur zwei Tagen die gesamte Innenstadt inklusive Peter-und-Paul-Festung und mehrerer Kirchen zu besichtigen, eine Bootsfahrt auf den Kanälen zu machen, die – man höre und staune – auch für ausländische Studenten kostenlose Eremitage zu besuchen, nach Peterhof, der Sommerresidenz der Zaren am Finnischen Meerbusen zu fahren und in Zarskoje Selo, das seit 1937 Puschkin heißt, das mysteriöse Bernsteinzimmer anzusehen. Lediglich von den zwischen zwei und fünf Uhr morgens geöffneten Brücken, einer weiteren Attraktion der Stadt (wenn auch eher bei wärmeren Wetter und während der weißen Nächte) konnten wir nicht einmal mehr träumen vor lauter Erschöpfung.
Unser treuer Begleiter bei all diesen Unternehmungen war der von meiner Wohnheimgenossin Lucie geliehene Routard, der anders als viele deutsche Reiseführer Moskau und Sankt Petersburg in einem Band bietet und dazu noch alle Umgebungsausflüge mit nützlichen Informationen von den Nummern und Abfahrtsorten der Marschrutka genannten Kleinbusse bis zu Einkehrmöglichkeiten, die wir selbstverständlich auch ausprobiert haben.
Der Meridian Moskau hatte spätestens dann verspielt, als wir feststellten, dass auf den Stadtplänen diverse nicht erst gestern gebaute Moskauer Brücken nicht eingezeichnet sind. Außerdem scheinen viele Reiseführerautoren was Moskau angeht ganz dreist von einander abzuschreiben. Es würde mich interessieren, wie viele Leute einen Reiseführer besitzen, in dem der Satz „Und manchmal tanzt Mama Soja, die Besitzerin, durchs Restaurant“ steht – und wie viele davon eine solche Szene im gleichnamigen georgischen Restaurant tatsächlich schon einmal erlebt haben. Aber das nur am Rande. Und das Essen, vor allem die unzähligen vegetarischen und mit Granatapfelkörnern dekorierten Vorspeisen und frischgebackenen Brote sind natürlich köstlich, auch wenn ein schwankendes Schiff die Nahrungsaufnahme etwas erschweren kann.
Der Routard erwies sich jedenfalls als nützliche Lektüre in Warteschlangen und als Material zum Vom-Blatt-Übersetzen-bis-zum-Übelwerden auf rasanten Marschrutka-Fahrten zu den o.g. Ausflugsorten. Wenn man als „Individualreisender“ in diesen Schlössern unterwegs ist, wird man zwischen Hansa-Kreuzfahrten und anderen hilflosen Rentnerreisegruppen durch die Säle geschoben, von denen vor lauter Pracht bald einer wie der andere aussieht. Mit dem Routard in der Hand landet man auch mal in einer französischen Führung, was für Tanja mitunter ergiebiger war als mein Flüstersimultan.
Im wunderschönen Peterhof war im Gegensatz zu Moskau (und dem osmanischen Reich kurz vor seinem Untergang) die Tulpenzeit noch nicht angebrochen. Aber die Kombination aus Ostseestrand, russischen Birken und Versailles entschädigt für die Kahlheit des Parks. Und nach dem sich zwei Männer in Tarnanzügen an einem Schacht zu schaffen machten, gingen um elf Uhr untermalt von klassischer Musik die berühmten Fontänen an.
Später kam es in der Nähe eines Fischteiches zu einem Erlebnis, dass ich so schnell nicht vergessen werde: ich wurde von einem Eichhörnchen angefallen! Bis dahin gehörten diese eigentlich scheuen Wesen zu meinen absoluten Lieblingstieren und dementsprechend freute ich mich, dass eines sich bereitwillig von Tanja photographieren ließ und nicht bei der kleinsten Bewegung im nächsten Baum verschwunden ist. Als es aber plötzlich mit einem Satz auf mein Knie sprang und mir klar wurde, dass es zwei Sekunden später mir im Gesicht sitzen könnte, habe ich mich gehörig erschreckt. Spätestens als uns am Nachtmittag auch im Schlosspark von Zarskoje Selo ein Eichhörnchen zielstrebig entgegengerannte, kam mir der so gut wie menschenleere Park samt der heimischen Tierwelt wie verwunschen vor und ich begann mit vor jeder vorüberschwimmenden Ente und jedem heranfliegenden Spatz zu fürchten.
Zu den sechs Tonnen Bernstein in Form von Wandvertäfelungen kann ich übrigens nur sagen, dass es sicherlich spannender ist, sich weiterhin wie ein Kind zu fragen, wie denn ein ganzes Zimmer einfach verschwinden kann und wie und wo irgendjemand das wiederfinden will, so wie ich es bis vor nicht allzu langer Zeit getan habe.
In der Eremitage fanden wir zu unserer Freude ein Bild der Sainte Victoire, die Tanja und ich vor gut zwei Jahren, als ich mir von ihr Aix-en-Provence und die Umgebung zeigen ließ, erklommen haben (Bergkundige mögen diese Wortwahl für eine leichte Übertreibung halten).
Wieder in Moskau angekommen, mussten wir erst mal drei Runden Ringbahn fahren, um das Schlafdefizit der Zugfahrt auszugleichen. Da wir schon unter der Erde waren, folgte die obligatorische Tour durch die schönsten Metrostationen, bis es endlich sieben oder acht Uhr war, und wir in einer der vielen „Kofe Chaus“-Filialen (in etwa das russische Starbucks) ein Frühstücksangebot ohne Haken bekamen. Vorher mussten wir allerdings eine große Straße, das obere Ende der Twerskaja, überqueren, was uns vor Schreck beinahe das Leben gekostet hätte.
Ein weiterer Programmpunkt in Moskau war der Besuch des Lenin-Mausoleums, eine Art Geisterbahn auf dem Roten Platz. In diesem Kasten ist es so dunkel, dass man beinahe die Treppen runterfällt, und im schwarzen Marmor spiegeln sich die unheimlichen Wachen, die eine Spezialausbildung erhalten haben müssen. Diese besteht offenbar darin besteht, kein Wort zu sagen, auf Fragen nicht zu antworten, aufdringlichen Blicken auszuweichen und die Besucher mit in Zeitlupe ausgestreckten Armen durch die Gänge und um den Glaskasten zu weisen, in dem Uljanow oder die Wachspuppe aufgebahrt liegt. Nach 30 Sekunden, einem Bruchteil der Warte- und Durchsuchungszeit, steht man wieder im Freien und kann sich an der Kremlwand noch die Gräber anderer Sowjet-Persönlichkeiten ansehen.
Einige Tore sind uns verschlossen geblieben, z.B. die des Moskauer Kremls, des Neujungfrauenklosters, der Tretjakowgalerie während der Langen Nacht der Museen und natürlich die meines Wohnheimes (außer ein Mal, das wir sogleich zu einer Krankensiesta und zur Zubereitung von Hörnchennudeln mit roten Bohnen genutzt haben), andere haben wir uns auf russische Art geöffnet, z.B. die der MGU, „meiner“ Uni vom letzten Mal. Insgesamt haben wir mehr gesehen, als ich hier schreiben (oder zumindest hochladen) könnte. Auch aus den knapp tausend meinen Computer beschwerenden Bildern (von denen ich im Prinzip kein einziges machen musste, was für ein Urlaub!) kann ich nur eine kleine Auswahl anbieten.
Heute sind es noch genau zwei Wochen, die mir in Moskau bleiben.